Zur Strafbarkeit bei Überschreitung von Lenkzeiten und Nichteinhaltung von Ruhezeiten

Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 19.10.2010 – 1 Ss Bs 78/10

Zur Frage der Konkurrenzen der in § 8a Fahrpersonalgesetz i.V.m. Artikel 6 (Lenkzeiten) und Artikel 7 (Ruhezeiten) der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 genannten Tatbestände unter Berücksichtigung des Verbots der Doppelbestrafung (Anschluss an OLG Frankfurt, Beschluss vom 13. Juli 2010, 2 Ss Owi 17/10).

(Leitsätze des Gerichts)

Tenor

Das Urteil des Amtsgerichts Suhl vom 29.04.2010 wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Prüfung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht Suhl zurückverwiesen.

Gründe

I.

1 Der Landesbetrieb für Arbeitsschutz und technischen Verbraucherschutz des Freistaates Thüringen, Regionalinspektion Gera, hat gegen den Betroffenen wegen des Vorwurfs, er habe in der Zeit vom 23.02. bis 16.03.2009 mehrfach gegen die Bestimmungen zur Einhaltung der Lenk- und Ruhezeiten verstoßen, am 14.07.2009 einen Bußgeldbescheid erlassen. Gegen den Betroffenen wurden Geldbußen in Höhe von 255 €, 60 €, 120 €, 90 € bzw. 60,00 € festgesetzt.

2 Gegen diesen Bußgeldbescheid, der dem Betroffenen am 17.07.2009 zugestellt wurde, hat dieser durch seinen Verteidiger mit Schriftsatz vom 20.07.2009 Einspruch eingelegt. Auf diesen Einspruch hat das Amtsgericht in der Hauptverhandlung vom 29.04.2010, an der weder der Betroffene noch sein Verteidiger teilgenommen haben, mit Urteil vom selben Tage dem Betroffenen wegen fahrlässiger Verstöße gegen Artikel 6 Abs. 3, 7, 8 Abs. 4 der Verordnung EG Nr. 561/2006 Bußgelder in Höhe von 250 €, 60 €, 120 €, 90 € bzw. 60 € auferlegt.

3 Gegen das seinem Verteidiger am 14.06.2010 zugestellte Urteil hat der Betroffene durch Schriftsatz seines Verteidigers vom selben Tage Rechtsbeschwerde eingelegt und deren Zulassung beantragt. Die Rechtsbeschwerde hat der Betroffene durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 08.07.2010 mit der Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründet.

4 In ihrer Zuschrift an den Senat vom 21.09.2010 hat die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft beantragt, das Urteil des Amtsgerichts Suhl vom 29.04.2010 mit den getroffenen Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Suhl zurückzuverweisen.

5 Mit Beschluss vom 15.10.2010 hat der Einzelrichter des Senats für Bußgeldsachen gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG die Sache dem Senat für Bußgeldsachen in der Besetzung mit 3 Richtern übertragen.

II.

6 Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist als Rechtsbeschwerde statthaft, § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 OWiG. Die Verstöße sind als eine prozessuale Tat i.S.d. § 264 StPO anzusehen, so dass die in der Summe verhängten Bußgelder mit 580 € die Rechtsbeschwerdegrenze gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 1 OWiG überschreiten.

7 Die erhobene formelle Rüge ist nicht ausgeführt, das Rechtsmittel hat aber auf die Sachrüge einen vorläufigen Erfolg.

8 Zwar sind an die Gründe eines Urteils in Bußgeldsachen im Allgemeinen keine besonderen Anforderungen zu stellen. Sie müssen jedoch hinsichtlich des Schuldspruchs so beschaffen sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht ihnen zur Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung entnehmen kann, welche Feststellungen der Tatrichter zur objektiven und subjektiven Tatseite getroffen hat.

9 Diesen Mindestanforderungen genügt das angegriffene Urteil nicht. Der Entscheidung können nicht in ausreichendem Umfang die erforderlichen Feststellungen zum objektiven Tatbestand der §§ 8, 8a Fahrpersonalgesetz i.V.m. der Verordnung EG Nr. 561/2006 entnommen werden. Artikel 2 Abs. 1a der Verordnung EG Nr. 561/2006 legt fest, dass diese Vorschrift für Güterbeförderungen im Straßenverkehr mit Fahrzeugen gilt, deren zulässige Höchstmasse einschließlich Anhänger oder Sattelanhänger 3,5 t übersteigt.

10 Dass dies vorliegend der Fall war, ist dem Urteil jedoch nicht zu entnehmen. Im Urteil des Amtsgerichts Suhl wird lediglich dargelegt, dass der Betroffene von Beruf Kraftfahrer ist und die Verstöße als Führer eines Lastkraftwagens im Fernverkehr mit dem amtl. Kennzeichen ABG-CP 16 begangen hat. Ob er die Verkehrsverstöße aber bei der Güterbeförderung und insbesondere mit einem Fahrzeug begangen hat, dessen zulässige Höchstmasse 3,5t überstieg, wird im Urteil nicht mitgeteilt.

11 Weiterhin verstößt das Urteil des Amtsgerichts Suhl gegen das Verbot der Doppelbestrafung.

12 Zur Frage der Konkurrenzen der in § 8a Fahrpersonalgesetz i.V.m. Artikel 6 (Lenkzeiten) und Artikel 7 (Ruhezeiten) der Verordnung EG Nr. 561/2006 genannten Tatbestände unter Berücksichtigung des Verbots der Doppelbestrafung (Artikel 103 Abs. 3 GG) hat das OLG Frankfurt in seiner Entscheidung vom 13.07.2010, 2 Ss Owi 17/10, bei juris, folgende grundsätzliche Aussagen getroffen.

13 „§ 8a Abs. 2 Nr. 1 Fahrpersonalgesetz regelt i.V.m. Art 6 – 8 VO EG 561/2006 konkret die Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten von Fahrern im nationalen und grenzüberschreitenden Straßenverkehr innerhalb der Gemeinschaft in allen Mitgliedsstaaten. Ziel der Verordnung ist die Harmonisierung der Bedingungen des Wettbewerbs, der Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr (EuGH, Urt v. 28.09.2009 –Rs. C-193/99, NZA-RR 2001, 103).

14 Zur Erreichung dieser Ziele hat die Verordnung die zulässigen Lenkzeiten nach Tagen, Wochen und Doppelwochen gestaffelt, mit jeweiligen Höchstgrenzen versehen und mit der Verpflichtung an die Fahrer verknüpft, regelmäßige Ruhezeiten einzuhalten (amtl. Begründung der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 vom 15.03.2006 Rdn. 17).

15 Konkret geht die Verordnung von einem gestaffelten flexiblen System aus, das es ermöglichen soll, durch Kompensationen vereinzelter (zulässiger) Überschreitung übermäßige Lenkzeiten in der Summe zu verhindern, um den Zweck der Verordnung zu erreichen.

16 Gemäß Art. 6 Abs. 1 VO darf die tägliche Lenkzeit 9 Stunden nicht überschreiten, wobei die tägliche Lenkzeit zweimal in der Woche auf höchstens 10 Stunden verlängert werden kann. In der Summe ergäbe dies eine maximale Lenkzeit von 65 Stunden in der Woche.

17 In der zweiten Stufe (Abs. 2) darf die wöchentliche Lenkzeit jedoch 56 Stunden nicht überschreiten. Damit soll sichergestellt werden, dass der Fahrer bei maximaler Ausnutzung der Tageslenkzeit im Einzelfall innerhalb der Woche eine Kompensation vornehmen muss.

18 In der dritten Stufe (Abs. 3) darf die summierte Gesamtlenkzeit während zweier aufeinanderfolgender Wochen 90 Stunden nicht überschreiten. Damit wird die an sich mögliche Lenkzeit innerhalb von zwei Wochen von 112 Stunden erneut herabgesetzt, um auch hier eine Ausnutzung von wöchentlichen Höchstlenkzeiten insgesamt durch Ruhezeiten an anderen Tagen zu kompensieren.

19 Dieses System der flexiblen Kompensation zeigt, dass jede Stufe eigenständige Schutzgrenzen hat, dass die danach folgende Stufe im Ergebnis jeweils engere Schutzgrenzen zur Vorhergehenden statuiert, und dass die jeweiligen vorhergehenden Handlungen in der Regel, aber nicht zwingend, in der jeweils nachfolgenden Stufe einfließen. So kann jede Stufe auch eigenständig begangen werden, ohne die vorherige zu tangieren. Z.B. sind Wochenverstöße denkbar, ohne dass es zu Tagesverstößen kommen muss. Umgekehrt sind Tagesverstöße denkbar, ohne dass die Wochengrenze überschritten wird, wenn es an nachfolgenden Tagen innerhalb der Woche zu Kompensationen kommt.

20 Rechtlich gesehen liegen damit eigenständige Tatbestände vor, die aber vom Normsetzer so aufeinander bezogen sind, dass in der Regel, aber nicht zwingend, einzelne Ausführungshandlungen mehrere Tatbestände verwirklichen. Ist dies der Fall, ist das konkrete Handlungsunrecht der sanktionierten Ausführungshandlung – Verstoß gegen die Lenkzeit – nur einmal zu erfassen, da ansonsten die nämliche Handlung des Betroffenen zweimal sanktioniert wird. Das darüber hinausgehende Handlungsunrecht, – den begangenen Verstoß nicht in der Folge kompensiert und damit weitere Tatbestände ausgelöst zu haben -, ist rechtlich keine eigenständige neue Tat im Sinne des § 20 OWiG, sondern setzt dann die bereits erfasste Ausführungshandlung voraus und wirkt damit nur unrechtsvertiefend. Dies kann bei der Bußgeldhöhe Berücksichtigung finden.

21 Entsprechend dem systematischen Aufbau der Vorschrift hat der Doppelwochenverstoß den weitesten Tatzeitraum, aber im Ergebnis die engste Lenkzeitgrenze. Er ist damit Ausgangspunkt der Betrachtung des zur Sanktionierung gestellten Tatzeitraums, der in der Verordnung mit 28 Tagen vorgegeben ist, wenn wie vorliegend ein digitales Aufzeichnungsgerät gemäß Verordnung (EG) Nr. 2135/98 Verwendung findet. Diese auf den Doppelwochenverstoß ausgerichtete Betrachtung ergibt sich auch aus der amtlichen Begründung, nach der mit der Einführung des digitalen Aufzeichnungsgeräts die Tätigkeit des Fahrers über einen Zeitraum von 28 Tagen und die des Fahrzeugs über einen Zeitraum von 365 Tagen aufgezeichnet wird, damit so die Einhaltung der Bestimmungen über die Lenk- und Ruhezeiten und insbesondere der vorgeschriebenen maximalen Lenkzeit über einen Zeitraum von zwei Wochen durchgesetzt werden kann (vgl. amtl. Begründung der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 vom 15.03.2006 Rdn. 35).

22 Bei der Betrachtung der 28 Tage sind zunächst unter Beachtung des Verbots der Doppelbestrafung alle Doppelwochenverstöße zu ermitteln, wobei bei dem genannten Tatzeitraum maximal 2 Doppelwochenverstöße denkbar sind, die zueinander in Tatmehrheit stehen. Ist es innerhalb der Doppelwochenverstöße zusätzlich zu Wochenverstößen und/oder Tagesverstößen gekommen, stehen diese mit dem jeweiligen Doppelwochenverstoß in Tateinheit.

23 Kommt es zu keinen Doppelwochenverstößen, sind Verstöße der Wochengrenze zu prüfen. Dabei stehen selbständige Wochenverstöße untereinander in Tatmehrheit. Innerhalb der Wochenverstöße stehen eventuelle Tagesverstöße zum Wochenverstoß in Tateinheit. Entsprechend gilt, wenn kein Wochenverstoß gegeben ist, Tatmehrheit für selbständige Tagesverstöße untereinander.

24 Kommt es nur zu einem Doppelwochenverstoß, stehen einzelne Wochenverstöße, die nicht von dieser Doppelwoche (mit)erfasst werden, in Tatmehrheit. Entsprechendes gilt für Tagesverstöße, die nicht von Doppelwochen und Wochenverstößen (mit)erfasst sind.

25 Die Möglichkeit von bewussten Umgehungen mit der Folge von Ahndungslücken, wie vom Amtsgericht angenommen, treten auf Grund der Staffelung der jeweiligen Höchstgrenzen innerhalb des Tatzeitraums von 28 Tagen nicht auf. Lediglich dann, wenn nur die mittleren zwei Wochen einen Doppelwochenverstoß ergeben, können die Randwochen nicht zu den an den Tatzeitraum angrenzenden Wochen in Bezug gesetzt werden, so dass mögliche weitere Doppelwochenverstöße nicht geprüft werden können. Dies ist aber eine Frage des zur Überprüfung gestellten Lebensausschnitts und damit Folge der Ausschnittsauswahl. Das Gericht hat nur den Lebenssachverhalt rechtlich zu beurteilen, der ihm von den Ordnungsbehörden zur Prüfung vorgelegt wird.“

26 Gemessen an diesen Grundsätzen ergibt sich für den vorliegenden Fall Folgendes:

27 Die Verurteilung wegen Verstoßes gegen die Verkürzung der täglichen Ruhezeit (Verstoß zu Ziffer 2) am 28.02.2009 berücksichtigt nicht, dass insoweit Identität zum Verstoß gegen die Lenkzeit in der Doppelwoche zum Verstoß in Ziffer 1 besteht.

28 Weiterhin besteht eine teilweise Identität zwischen den Verstößen zu 1 und 3, da sich insoweit die Tatzeiträume überschneiden. Der Tatzeitraum des Verstoßes zu Ziffer 1 umfasst nämlich die Doppelwoche vom 23.02. bis 08.03.2009, der Verstoß zu Ziffer 3 die Doppelwoche vom 02.03. bis 15.03.2009.

29 Schließlich fällt auch der Verstoß zu Ziffer 4 – Nichteinhaltung der wöchentlichen Ruhezeit – nahezu vollständig in den Zeitraum des Verstoßes zu Ziffer 3.

30 Der Schuldspruch des angefochtenen Urteils kann deshalb keinen Bestand haben.

31 Darüber hinaus ist auch die Rechtsfolgenentscheidung zu beanstanden. Da es sich angesichts des Ausspruchs einer Geldbuße von insgesamt 580,00 € nicht mehr um eine geringfügige Ordnungswidrigkeit i.S.d. § 17 Abs. 3 Satz 2 2. Halbsatz OWiG handelt, hätte sich der Tatrichter bei der Bemessung der Höhe des Bußgeldes mit den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen auseinandersetzen müssen. Feststellungen zum Einkommen des Betroffenen fehlen aber gänzlich.

32 Wegen der aufgezeigten Mängel kann das Urteil des Amtsgerichts Suhl vom 29.04.2010 keinen Bestand haben. Es war aufzuheben und die Sache war zu neuer Prüfung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Suhl zurückzuverweisen.

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